Für Leser haben ausgereifte Handlungsorte einen großen Anteil daran, das kindliche Entzücken aus der Hektik des Alltagsgeschehens herauszulocken. Mit einer lebhaften Szenerie atmet eine Geschichte tief und durchdringend, festigt sich im Verstand und hallt bis in die Hinterzimmer der Vorstellungskraft. Die folgenden Tipps helfen dabei, die Wirkung von Ort, Zeit und Raum für die Story auszunutzen.
1. Platziere Charaktere in einer lebendigen Umgebung
Ohne Handlungsort können die Akteure unangenehm in einer Leere hängen, so dass die Story hohl und kalt wirkt. Der Leser sollte immer wissen, wo er sich befindet. Dadurch kann der Leser die Handlung besser verorten.
Bei jeder Form der Kommunikation erschaffen wir eine mentale Repräsentation des Austausches in einer Diskurswelt. Das erleichtert es uns, dem Verlauf eines Diskurses zu folgen, da die Menge der relevanten Elemente auf die spezifische Diskurswelt begrenzt ist. So kann man ein Sushi-Restaurant in die Diskurswelt einführen, z. B. weil der Protagonist dort ein Date trifft. Nun braucht man nicht mehr zu erwähnen, dass es dort Sushi gibt, genauso wenig, dass dort eine asiatische Kellnerin herumläuft. Selbst wenn man nicht hundertprozentig davon ausgehen kann, dass in einem Sushi-Restaurant asiatische Kellnerinnen arbeiten, bringt die Erwähnung dieser Tatsache sehr wenig Mehrwert für den Leser, da er das wahrscheinlich eh angenommen hat.
Die Story ist mit diesem Handlungsort nun um einiges reicher geworden, da der Leser zahlreiche Details aus seinem Weltwissen in die Diskurswelt überführen kann. Vieles davon kann man der Fantasie des Lesers überlassen. Außerdem können gewisse Aspekte als gegeben angenommen werden. In einem anderen Setting wie einem Hinterhof würde der Satz „Ein Teller mit rotem Rand fuhr an ihm vorbei.“ für Stirnrunzeln beim Leser sorgen, aber nicht so beim Sushi-Restaurant.
2. Webe ein Netz aus konstruktiven Details
Nun haben wir zwar den Handlungsort gesetzt, aber sehr lebhaft ist der Fakt, dass etwas in einem Sushi-Restaurant spielt, nicht. Statt einfach zu sagen, „Er betrat das Sushi-Restaurant.“, kann man kurz zeigen, warum man dieses eine Restaurant als Handlungsort ausgewählt hat, indem man es in einem Absatz beschreibt. Was empfindet der Erzähler/Protagonist an dem Ort? Was assoziiert er mit diesem? So schafft man eine Atmosphäre, die dem Leser viel mehr mitgibt und gleichzeitig zur Charakterisierung dient. Das könnte z. B. so aussehen:
[toggle title=“Lebhafte Details“]Ein kleines Sushi-Restaurant, stellte er fest. An den Wänden hingen Kimonos mit reichen Ornamenten, auf die kleine Strahler gerichtet waren, so dass von ihnen ein warmes Leuchten ausging. Sie setzten sich an einen der hinteren Tische, auf den nur noch wenig Licht fiel. [/toggle]
Da der Ort ein wesentlicher Bestandteil der Geschichte ist, sollte man sich immer mal wieder auf ihn beziehen, auch um den Ort für den Leser fester in der Diskurswelt zu verankern. Dafür sind keine großen Passagen notwendig, sondern vielmehr kleine, dezente Sprenkel, die aus dem Handlungsort einen Stimmungsmacher werden lassen.
[toggle title=“Kleine Sprenkel“]Sie stellte gerade ihren dritten Teller auf die ersten beiden und schenkte ihm ein kurzes Lächeln.
„Es schmeckt dir also?“, fragte er.
„Ja, ich wusste nicht, was ich all die Jahre verpasst hab. Sushi ist klasse. Und bei dir?“
Er schaute auf seine zwei Teller, einer mit grünem Rand und einer mit blauem, die den unterschiedlichen Preis repräsentierten. „Die Garnele hatte den blauen Teller nicht verdient, aber die Avocadorollen waren nicht schlecht.“
„Du gehst wohl oft Sushi essen?“
„Nein, nicht oft. Aber gerne mal.“ Sein Blick fiel erneut auf das riesige Holzschiff, das die Mitte des Raumes einnahm und das Restaurant ein wenig beengt wirken ließ.[/toggle]
3. Schaffe eine Atmosphäre statt ein Gemälde
Die Kunst ist es nun, die richtige Atmosphäre aufzubauen. Was der Leser dabei nicht möchte, ist mit Fakten überschüttet zu werden. Die Konzentration sollte auf aussagekräftigen Details liegen statt auf wahllosen Fakten, die emotionslos und ineffektiv sind. Hier ist der Text von „lebhafte Details“ umgeschrieben mit zu vielen Details. Die Wirkung von vorher geht komplett verloren, weil es mit unwichtigen Dingen überladen ist.
[toggle title=“Zu viele Fakten“]Das Sushi-Restaurant war nicht sehr groß, es hatte gerade einmal acht Tische, mit jeweils zwei oder drei Sitzplätzen. An der rechten Wand hingen drei Kimonos mit reichen Ornamenten, auf die drei kleine Strahler gerichtet waren, so dass von ihnen ein warmes Leuchten ausging. Das Licht reichte jedoch nur bis zu dreien der Tische an der Wand, wobei der letzte Tisch im Dunkeln lag. In der Mitte stand ein riesiges Schiff, mit 25 Sushirollen darin platziert. An der linken Wand waren keine Kimonos, aber auch Strahler. Gegenüber vom Eingang war eine kleine Bar, wohinter zwei Kellner standen, die gerade beim Abwaschen von zwei Stapeln mit Tellern waren. Sie setzten sich an den hinteren, dunklen Tisch.[/toggle]
Was in den bisherigen Beispielen nicht beachtet wurde, ist eines der wichtigsten Grundsätze des Schreibens: benutze alle Sinne! Orte sollten nicht nur visuelle Eindrücke haben, wenn die Geschichte wirklich leben und der Leser komplett eintauchen können soll. Hörsin, Tastsinn, Geschmackssinn und die Wahrnehmung von Bewegungen sind ebenso wichtig. Je nach Atmosphäre sind andere Sinne aussagekräftiger.
[toggle title=“Alle Sinne“]Ein kleines Sushi-Restaurant, stellte er fest. An den Wänden hingen Kimonos mit reichen Ornamenten, auf die kleine Strahler gerichtet waren, so dass von ihnen ein warmes Leuchten ausging. Sie setzten sich an einen der hinteren Tische, auf den nur noch wenig Licht fiel. Vom Laufband ging ein monotones Surren aus, das nicht sehr laut, aber dennoch in seinem Inneren widerhallte. Er spürte die Vibrationen förmlich, als würden sie von der Sitzbank über das Leder in seinen Rücken übertragen.
…
Die Garnele knautschte zwischen seinen Zähnen wie ein Stück eines geschmolzenen Autoreifens. Er bildete sich fast ein, es würde ein wenig teerig schmecken.[/toggle]
Ein weiteres Augenmerk verdienen unsere Nomen (Substantive). Benutzt man nur Nomen wie Tisch, Lampe, Stuhl, Fenster, etc., die in jeder Diskurswelt leicht zu aktivieren sind, dann stellt sich die Frage, warum die Geschichte überhaupt lesenswert ist. Auch Adjektive machen aus langweiligen Nomen keine besseren Inhalte und können alles sogar schlimmer machen, so dass es nur noch merkwürdig klingt. Außerdem sind Adjektive in normaler Kommunikation sehr selten. Und auch wenn in literarischen Texten am meisten Adjektive verwendet werden, sollten sie wohl bedacht und inhaltlich relevant sein, statt als Schönheitskuren für Nomen zu fungieren. Starke Nomen wie in dem Beispieltext „Alle Sinne“ wirken wesentlich intensiver, z. B. Kimono, Ornament, Strahler, Surren … Es hilft schon, nach dem Schreiben zurückzugehen und alle Nomen zu überprüfen und zu überlegen, ob sie die interessanteste Wahl waren.
4. Lasse Ort und Handlung harmonieren
Der Handlungsort sollte kein notwendiges Übel sein, sondern im Einklang mit der Handlung sein. Die Wahl des Ortes sollte sinnvoll für die Geschichte sein, was jedoch nicht heißt, dass man hier nicht herumspielen darf. Warum sollte eine Hochzeit nicht auf einer Bergspitze stattfinden? Die Frage sollte lauten, warum ist es nützlich für die Geschichte, dass sie dort spielt.
In unserem Beispiel könnte man anhand der Beschreibung des Ortes zuerst vermuten, dass das Sushi-Restaurent ein gemütlicher Platz für das Date ist und dass der Protagonist sich dort wohl fühlt („warmes Leuchten“). Doch nach weiteren Eindrücken wird klar, dass der Protagonist sich unwohl fühlt („monotones Surren“, „im Inneren widerhallt“), wobei unklar ist, ob es sich um Unsicherheit oder ein schlechtes Date handelt. Im Laufe des Essens nimmt das Unbehagen noch zu („Garnelen – knautschig – teerig“, „Holzschiff – beengt“) und der Leser mag vermuten, dass ihm das Date nicht besonders zusagt. All das sagt uns der Ort und wie er auf die Personen wirkt.
Im Folgenden ändern wir die Beschreibung des Ortes und bekommen eine komplett andere Story:
[toggle title=“Ort als Handlungsträger“]Ein kleines Sushi-Restaurant, stellte er fest. An den Wänden hingen Kimonos mit reichen Ornamenten, auf die kleine Strahler gerichtet waren, so dass von ihnen ein warmes Leuchten ausging. Sie setzten sich an einen der hinteren Tische, auf den nur noch wenig Licht fiel. Die Sitzbank war großzügig bemessen und ließ sie tief einsinken. Vom Laufband ging ein Surren aus, das ihm ein leichtes Kribbeln den Rücken herunterjagte.
…
Die Avocado entfaltete ihren zarten, luftigen Geschmack als er die Sushirolle über seine Zunge gleiten ließ, wobei die Schärfe des Wasabi sanft prickelte.
…
Sie stellte gerade ihren dritten Teller auf die ersten beiden und schenkte ihm ein kurzes Lächeln.
Er beugte sich noch ein wenig weiter über seine gefalteten Ellenbogen und fragte: „Es schmeckt dir also?“
„Ja, ich wusste nicht, was ich all die Jahre verpasst hab. Sushi ist klasse. Und bei dir?“
Er schaute auf seine zwei Teller, einer mit rotem Rand und einer mit blauem, die den unterschiedlichen Preis repräsentierten. „Die Garnele hatte den blauen Teller nicht verdient, aber die Avocadorollen waren nicht schlecht.“
„Du gehst wohl oft Sushi essen?“
„Nein, nicht oft. Aber gerne mal.“ Sein Blick fiel erneut auf das Laufband. „Hier, die musst du unbedingt probieren. Ich hoffe, die sind hier auch so gut. Die werden dich umhauen.“
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Hier lässt der Ort all seine Möglichkeiten spielen, um den beiden mächtig einzuheizen. Derselbe Ort könnte aber genausogut einem Krimi Raum geben, sich zu entfalten.
5. Betrachte den Handlungsort wie einen Charakter
Orte sind also äußerst wichtige Mittel für die Geschichte und die Handlung sowie für die Charakterisierungen. Daher kann man sich ruhig genausoviel Zeit für die Handlungsorte nehmen wie für die Spezifizierung von Charakteren. Teilweise benötigen die Orte sogar mehr Arbeitseinsatz, weil man sich über Gegebenheiten informieren muss. So ist eine Großstadt nicht einfach eine Großstadt genauso wie nicht jede Wüste gleich ist. Hongkong kann man kaum mit Berlin vergleichen, geschweige denn mit Sydney. Überall wachsen andere Pflanzenarten, stehen andere Gebäudearten, etc. Daher schadet es nicht, die freundliche Suchmaschine zu durchforsten und mehr über unseren Schauplatz herauszufinden.
Als Übung kannst du einmal die Augen schließen und dir einen Ort vorstellen, der in dir starke Emotionen auslöst. Versuche, dir den Ort im Detail bildlich auszumalen, frage dich selbst nach all deinen Sinnen, was sagen sie dir? Nun analysiere einmal, welche Dinge die Emotionen bei dir auslösen. Ist es das Aussehen? Der Geruch? Eine Erinnerung? Nutze eine Liste mit den Emotionen, die du mit Plätzen verbindest, für deine nächste Story.
C. Harry Kahn
Alles schön und gut, aber ein Autor — ich meine: ein Romanschreiber –, der sich diese Grundsätze erst aneignen muss, sollte sich lieber nach einer anderen Berufung umsehen, Sänger vielleicht, oder Bundestagsprotollant.
Nico
Nun ja, das ist natürlich die anhaltende Diskussion darüber, ob man gutes kreatives Schreiben lernen kann. Einige mögen ein Gefühl für diese Dinge haben, aber auch dieses Gefühl fällt wohl selten vom Himmel, sondern ergibt sich meist aus dem wachsamen Lesen / Studium anderer Literatur.
Warum sollte man nicht ganz bewusst auch auf die linguistische Seite schauen? Die meisten erfolgreichen Autoren kennen es wohl, wenn eine Passage irgendwie nicht richtig klingt, wenn die intendierte Wirkung nicht herüberkommt. Die Tipps aus dem Beitrag könnten eine Hilfestellung sein, die Problemfelder bewusst zu erfassen und den schwierigen Abschnitt daraufhin besser zu gestalten. Das heißt ja nicht, dass der Abschnitt vorher komplett schlecht war und alle Dinge missachtet hat. Und für jemanden, der noch neu in der Welt des Schreibens ist, können die Tipps hoffentlich gute Ansatzpunkte geben und den Fokus auf einige wesentliche Techniken lenken. Am Anfang gilt für die meisten, dass man viel übt und an Sachen feilt, bis es sitzt.
Kettenstory mit Ortsfokus - TheLitopian
[…] gefragt, dieses Setting mit Beschreibungen zum Ort zu füllen. Die Tipps in unserem Beitrag Die Wirkung von Ort, Zeit und Raum sollen dabei als Hilfestellung […]